Selbstmitgefühl

 

Die Achtsamkeit fragt: Was passiert gerade?

Das Mitgefühl fragt: Was könnte jetzt freundlich sein?

  

Mitgefühl beinhaltet die natürliche in uns angelegte Fähigkeit, dem Leiden von Menschen (und Tieren) gegenüber mit Einfühlungsvermögen und Verständnis zu begegnen, sowie den natürlichen Impuls das Leiden lindern zu wollen. 

Selbstmitgefühl betont die Perspektive, dass ich diese Fähigkeit und Haltung auch mir selbst gegenüber einnehmen kann, nämlich dann, wenn es mir selbst nicht gut geht. 

 

Aber wozu Selbstmitgefühl?

Ist das nicht etwas nur für "schwache Gemüter"? Und wie kann ausgerechnet Selbstmitgefühl helfen, dass es mir besser geht, dass ich besser mit Stress, Belastungen, oder schwierigen Gefühlen und Gedanken umgehen kann? Machen Sie doch einmal dieses kleine Experiment:

 

Ein kurzes Experiment zum Selbstmitgefühl

Situation 1 - Fehler der Anderen

Stellen Sie sich vor, eine gute Freundin, ein guter Freund, ein geliebter Mensch kommt zu Ihnen und berichtet von einem Fehler, einem Missgeschick oder einer schmerzhaften Erfahrung, die er oder sie gemacht hat. Er/sie fühlt sich schlecht und glaubt, nicht gut genug zu sein. Stellen Sie sich die Situation ganz konkret vor. 

Und dann schauen Sie einmal, was in Ihnen auftaucht. Welches Gefühl? Welche Gedanken tauchen auf? Was sagen Sie zu diesem Menschen? Welche Worte fallen Ihnen ein? Wie ist der Tonfall der Worte? Welchen Impuls haben Sie? Was tun Sie? - Nehmen Sie sich ein-zwei Minuten Zeit, um sich die Situation vorzustellen und Ihrer inneren Stimme zu lauschen, bevor Sie weiterlesen.

Situation 2 - Eigene Fehler

Als nächstes rufen Sie sich einmal eine neue Situation in Erinnerung, in der Sie selbst einen Fehler gemacht haben, in der Sie Ihren eigenen Ansprüchen an sich selbst nicht gerecht geworden sind, in der Sie eine schmerzhafte Erfahrung gemacht haben. Sie fühlen sich schlecht und glauben, nicht gut genug zu sein. 

Und dann schauen Sie: Was taucht als Resonanz in Ihnen auf? Welches Gefühl? Welche Gedanken? Wie sprechen Sie mit sich selbst in dieser Situation? Welche Worte kommen Ihnen in den Sinn? Was sagen Sie zu sich? Wie ist der Tonfall, der Klang Ihrer Stimme? - Nehmen Sie sich auch hierfür ein-zwei Minuten Zeit.

Was fällt auf?

Was ist Ihnen aufgefallen? Gab es einen Unterschied zwischen diesen beiden Situationen?

Wird diese Übung in Seminaren gemacht, gibt es oft ein verblüffendes Ergebnis: Die meisten Menschen berichten, dass Sie mit anderen freundlicher und verständnisvoller umgehen - mit sich selbst hingegen eher streng und kritisch. Nicht wenige Teilnehmer berichten, dass sich ihr kritischer Umgang mit sich schon auf andere Menschen ausgedehnt hat - ihr Umgang mit anderen Menschen ist ähnlich kritisch. Nur sehr wenige berichten, dass sie mit sich selbst genauso freundlich umgehen wie mit einem geliebten Menschen.

 

Dies wäre aber genau das, wie man Selbstmitgefühl in einem ersten Schritt beschreiben könnte:


Sich selbst genauso freundlich zu begegnen,

wie einen guten Freund oder eine gute Freundin
(Kristin Neff)

Woher kommt der strenge Umgang mit uns selbst?

Vielleicht fragen Sie sich:

  • Wie kommt es, dass wir mit anderen oft mitfühlender umgehen als mit uns selbst?
  • Hilft uns dieser kritische strenge Umgang mit uns selbst? Bringt er uns weiter? Hilft er, einen konstruktiven Umgang mit der Situation zu finden? 
  • Welche Reaktion auf schwierige Erfahrungen  - Mitgefühl und Verständnis oder Strenge und Verurteilung - würde uns selbst und einem geliebten Menschen in einer leidvollen Situation gut tun?
  • Was würden wir uns von einem guten Freund / einer guten Freundin wirklich wünschen, wenn es uns schlecht geht?

Warum mangelt es uns oft an Selbstmitgefühl?

Fast niemand wünscht sich Kritik, Strenge und Verurteilung, schon gar nicht, wenn es einem schlecht geht. Wir scheinen ein ganz natürliches tiefes Bedürfnis nach Verständnis, Zuspruch und Ermutigung durch andere zu haben, auch und gerade dann, wenn es uns nicht gut geht, wenn etwas nicht so gelaufen ist, wie wir uns das gewünscht hätten. 

 

Und trotzdem taucht schnell eine kritische Stimme in uns auf, die nicht besonders freundlich und liebevoll mit uns spricht.

Wie kommt das?

 

Eine Erklärung aus den Erkenntnisse über die Funktionsweise unseres "Stress-Gehirns" ist, dass diese selbstkritische innere Stimme letztendlich der Versuch ist, uns selbst wieder in Sicherheit zu bringen.

Wenn etwas schief gelaufen ist und wir dies als Bedrohung interpretieren, befinden wir uns leicht im Stress: Körper und Geist schalten blitzschnell um in den Alarmmodus und reagieren automatisch mit Kampf, Flucht oder Verharren (siehe ausführlicher unter Stressbewältigung & Was ist Stress?). Selbstkritik kann in diesem Zusammenhang als eine Art Kampf gegen sich selbst als den Verursacher der Bedrohung gesehen werden. Es lässt sich leicht ausmalen, dass dieser Versuch langfristig nicht den Erfolg bringt, den er beabsichtigt. Denn was passiert, wenn diese innere Stimme immer lauter wird? Wir fühlen uns immer schlechter. Untersuchungen weisen darauf hin, dass ein hohes Maß an Selbstkritik dazu beiträgt, Depression und Angststörungen zu entwickeln.

Das Gehirn ist spezialisiert auf Gefahren und negative Signale

Die Forschung hat herausgefunden, dass unser Gehirn für negative Signale viel sensibler ist als für positive Signale.

Es ist sozusagen darauf spezialisiert, Gefahren wahrzunehmen. Denn das sichert letztendlich unser Überleben. 

 

Ein weitere Quelle für mangelndes Selbstmitgefühl kann in der Biografie liegen. Vielleicht sind wir oft kritisiert worden, oder wir haben ein besonders feines Gespür für Kritik und nehmen sie uns schnell zu Herzen. Dann kann es passieren, dass diese Kritik von außen zu einer inneren kritischen Stimme wird, die sich schnell verselbständigt. Je öfter wir den "inneren Kritiker" aktivieren, desto mehr geht er uns in Fleisch und Blut über. Positive Selbstermutigung und ein verständnisvoller Umgang wird so erschwert. Es gibt keine positiven Modelle, an denen ich mich orientieren kann.

 

Da es in unserer Gesellschaft viel um Verbesserung und Leistung geht, kann ein selbstfreundlicher und mitfühlender Umgang mit sich selbst auch als egoistisch, faul oder sogar als Zeichen von Schwäche betrachtet werden.

Wir haben daher vielleicht schnell Schranken im Kopf, die es uns nicht erlauben, freundlich und selbstmitfühlend zu sein.

Hohe Ansprüche an sich selbst

Die Neigung zu Selbstkritik hängt oft auch mit hohen Ansprüchen an sich selbst zusammen:

Ich möchte alles möglichst optimal machen, im Beruf, im Privatleben, in der Freizeit, der Kindererziehung, dem Fithalten des Körpers... Die Liste könnte endlos weitergehen.

Und wenn ich diesen Ansprüchen nicht genüge, fühle ich mich schlecht und kritisiere mich. Da wir im Leben aber einfach nicht immer alles hundertprozentig hinbekommen können, weil dies ganz und gar unmenschlich wäre, sind hohe Ansprüche an sich selbst und die Neigung zum Perfektionismus eine der großen Ursachen für Stress und psychische Belastungen. Wenn ich mich permanent an unerreichbaren Idealen messe, kann ich letztlich nur scheitern - oder komme eben in den Strudel der ewigen Angst vor dem Scheitern. Erfolg ist nichts Verlässliches im Leben. Missgeschicke passieren, Fehler sind menschlich. Sie gehören zum Leben dazu.

Was ist Selbstmitgefühl?

Selbstmitgefühl weist einen Weg aus dieser unheilvollen Spirale der Selbstoptimierung, des sich selbst Antreibens und Kritisierens.

Durch Selbstmitgefühl lernen Sie, Sich nicht an Ihren "Leistungen" im Leben und hohen Ansprüchen zu messen, sondern sich selbst als Mensch so anzunehmen, mit allem was Sie sind und was zutiefst menschlich ist, z.B. Fehler machen, sich traurig fühlen, Angst haben, sich einsam fühlen, in Konflikte geraten usw. Die Praxis des Selbstmitgefühls, die seine Wurzeln in den Weisheitslehren und Meditationspraktiken des Buddhismus hat, ist ein Weg, sich selbst die Anerkennung und Liebe zu schenken, die wir oft im Außen suchen.

Drei Komponenten

Die US-amerikanische Wissenschaftlerin und Pionierin der Mitgefühlsforschung, Prof. Dr. Kristin Neff, definiert Selbstmitgefühl als Fähigkeit, die folgende drei Komponenten beinhaltet:

  • Achtsamkeit (vs. Überidentifikation)
  • Selbstfreundlichkeit (vs. Selbstverurteilung)
  • Gemeinsame Menschlichkeit (vs. Isolierung)

Selbstmitgefühl hat Ähnlichkeit mit Selbst-Konzepten der humanistischen Psychologie, wie z.B. Selbstakzeptanz und Selbstachtung. Der Fokus dort ist jedoch stark auf das Individuum und das individuelle Wohlergehen gerichtet.  Neff betont demgegenüber die Einbettung der akzeptierenden, freundlichen Haltung sich selbst gegenüber in die Perspektive der gemeinsamen Menschlichkeit und die Fähigkeit zur Achtsamkeit. 

Achtsamkeit schützt vor Überidentifikation

Achtsamkeit beinhaltet eine gelassene Haltung gegenüber meinem Erleben und schützt so vor Überidentifkation. Kennen Sie das: Sie steigern sich in Ihre Wut, in Ihre Angst, in Ihr Leiden hinein, oder sind fest überzeugt von Glaubenssätzen, wie z.B. "Ich muss alles allein schaffen." - Wie viel Raum für Selbstfreundlichkeit ist dann noch da? - Genau: sehr wenig! Schnell suchen wir nämlich Schuldige (Fremde oder mich selbst), wenn etwas schwierig ist, verurteilen uns selbst oder andere. Die Kultivierung einer selbstfreundlichen Haltung setzt also eine achtsame, gelassene Haltung gegenüber dem eigenen Erleben voraus. Diese wird durch Achtsamkeit trainiert.

Gemeinsame Menschlichkeit

Die Perspektive gemeinsamer Menschlichkeit beinhaltet das Wissen darum, dass ich mit meinen Schwierigkeiten und Leiden nicht allein auf der Welt bin. Sie sind etwas zutiefst Menschliches. Alle Menschen kennen Angst, Wut, Traurigkeit, Einsamkeit, Krankheit, erleben Verlust, Trennung, die Erfahrung abgelehnt zu werden und vieles mehr.

 

Probieren Sie es einmal aus:

Vielleicht haben Sie ein aktuelles Problem. Stellen Sie es sich vor. Vielleicht ist es ein Konflikt, eine Sorge, Ärger, Unsicherheit, was auch immer...  Fühlen Sie sich achtsam und behutsam in dieses Problem und das damit verbundene Gefühl. Lassen Sie sich dafür ein wenig Zeit.  Machen Sie sich dann bewusst: "Es ist ok., dass ich so fühle. Das ist ganz menschlich. Auch andere Menschen kennen dieses Problem. Ich bin nicht allein damit." 


Selbstmitgefühlsübungen können helfen, sich wieder mit anderen verbunden zu fühlen (gemeinsame Menschlichkeit). Dieses Wissen um die Verbundenheit mit anderen kann sehr erleichternd sein. Nicht ICH habe Schuld an diesem Gefühl. Es ist ganz normal. Schwierigkeiten gehören für alle Menschen zum Leben.

 

Frits Koster, einer meiner Meditationslehrer und Mitbegründer des Mitgefühlsprogramms MBCL, sagt in den Übungen oft: "Und was glaubst du - bist du der einzige Mensch auf der Welt, der dieses Problem hat?" - und spontan entsteht ein lächelndes Wissen auf den Gesichtern. 

Selbstfreundlichkeit

Die Selbstfreundlichkeit, die als eigenständige Komponente im Selbstmitgefühl enthalten ist, fragt dann am Ende: Und was könnte jetzt freundlich sein? - Was würde mir jetzt gut tun? Oder: Was brauche ich jetzt? Wie kann ich mich jetzt liebevoll und freundlich versorgen, so wie ich es auch für einen geliebten Menschen tun würde?" 

 

Im Kurs Mindful Self-Compassion (MSC), der von Kristin Neff und Chris Germer in den USA entwickelt wurde, um Selbstmitgefühl zu kultivieren, werden diese drei Komponenten in ihrem Zusammenspiel auch als "liebevolle, verbundene Präsenz" beschrieben, mit der man leidvollen schmerzhaften Erfahrungen begegnet.

Was ist Selbstmitgefühl nicht?

Selbstmitgefühl ist als Wort und als Konzept relativ neu. Es ist Anfang der 2000er Jahre vor allem von den beiden Wissenschaftlern und Psychologen Dr. Kristin Neff und Chris Germer geprägt worden.

Die Frage war, inwieweit eine freundliche Haltung sich selbst gegenüber helfen kann, mit schwierigen Gefühlen, psychischen Belastungen und Krankheiten umzugehen. Und welchen Beitrag es leisten kann für das allgemeine Wohlbefinden und die Lebenszufriedenheit von Menschen (Mitgefühlsforschung).

Unterschiede zu Selbstwertgefühl, Empathie, Selbstmitleid

Dabei gab es von Anfang an einige feine, aber sehr entscheidende Unterschiede und Abgrenzungen zu herkömmlichen Konzepten wie z.B.:

  • Selbstwertgefühl:
    Das eigene Selbstwertgefühl setzt oft auf sozialen Vergleich und wird häufig von erbrachten Leistungen und Anerkennung im Außen abhängig gemacht. Ich brauche "Erfolg", um ein hohes Selbstwertgefühl zu haben. Habe ich diesen Erfolg nicht, fühle ich mich schlecht. Das Selbstmitgefühl hingegen ist eine Fähigkeit ganz unabhängig vom Erfolg, von Leistung und Anerkennung durch andere. Es vergleicht nicht, sondern nimmt das Menschliche in uns an, und uns selbst so wie wir sind.
  • Empathie:
    Empathie beinhaltet tiefes Einfühlungsvermögen in andere: Ich fühle den Schmerz, den Zustand oder die Emotion von jemand anderem in mir selbst. Selbst-Mitgefühl beinhaltet auch diese Fähigkeit sich einzufühlen, geht jedoch darüber hinaus: Beim Selbstmitgefühl ist die Wahrnehmung des Leids von Achtsamkeit und einer wohlwollenden, lindernden Kraft getragen. Es hat zusätzlich zur spürenden Qualität auch eine sehr kraftvolle aktive Komponente. 
  • Selbstmitleid:
    Versinken wir im Selbstmitleid, fühlen wir uns "von Gott und der Welt unverstanden", wir fühlen uns alleine und kreisen immer wieder um unser Leiden. Nicht selten suchen wir Schuldige im Außen, manchmal sind auch wir selbst Ziel der Attacken des Selbstmitleids. Es gibt Täter und Opfer. Das Selbstmitgefühl hingegen urteilt nicht und kennt keine Fragen nach Schuld. Es beinhaltet den Mut, sich eigenen schmerzhaften Erfahrungen zuzuwenden und dafür Verantwortung zu übernehmen. 

Wie kann ich Selbstmitgefühl lernen?

Selbstmitgefühl ist - ebenso wie Achtsamkeit - oft nicht besonders gut entwickelt.

Es ist zwar da, als natürliche in uns angelegte Fähigkeit, aber um es in schwierigen Zeiten wirklich zur Verfügung zu haben, ist eigut, es zu trainieren, damit es in uns wachsen kann. 

 

Dafür eignen sich gezielte Übungen, Trainingskonzepte und Selbstmitgefühlskurse.

 

Ein erster guter Schritt hin zu mehr Selbstmitgefühl ist ein klassischer MBSR-Kurs, der mit dem Schwerpunkt auf Achtsamkeitsübungen die grundlegende Fähigkeit und Haltung der Achtsamkeit kultiviert, und in dem implizit die Selbstfreundlichkeit enthalten ist. 

 

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