Und wie kann ich lernen, besser mit Stress umzugehen, Stress vorzubeugen und auf lange Sicht in eine gute Balance kommen?
Die gute Nachricht ist: Wir fangen in dieser Frage nie bei null an - ganz gleich, wie weit wir uns im Stress-Karussel befinden. Wir haben im Laufe des Lebens schon viel Erfahrung im Umgang mit Stress gemacht, denn Stress gehört zum Leben dazu, weil es nun einmal Herausforderungen und Belastungen gibt und es sie auch weiter geben wird. Irgendwie sind wir immer damit umgegangen - aber wie?
Vielleicht lassen Sie einmal diese Fragen auf sich wirken:
Diese Fragen spiegeln eigentlich schon zu einem großen Teil den Prozess zu einer besseren Stressbewältigung wider. Es geht darum, in sich selbst hinein zu horchen, eigene Muster zu erkennen, Bedürfnisse, Grenzen und Ressourcen zu spüren und ihnen Raum zu geben.
Um den eigenen Umgang mit Stress besser einordnen zu können, ist es zunächst hilfreich zu verstehen, was Stress überhaupt ist, was typischerweise im Stressgeschehen passiert und welchen "guten Zweck" Stressreaktionen verfolgen.
Stress ist ein uralter biologischer Mechanismus, der dem Überleben dient. Er stellt sicher, dass der Organismus bei einer auftretenden Bedrohung und Gefahr blitzschnell alle Energie und Kraft zur Verfügung hat, die er braucht, um möglichst effektiv mit Bedrohungen umzugehen und wieder in Sicherheit zu kommen. Im Stress wird blitzschnell unser Alarmsystem aktiviert. Die typischen Verhaltensmuster, die bei Menschen und Säugetieren im Stress gleichermaßen und automatisch aktiviert werden, sind Kampf oder Flucht, im äußersten Fall auch Verharren bzw. Totstellen.
Diese drei Muster (Kampf, Flucht, Verharren) sind unsere "Ur-Muster" im Stress, mit vielen verschiedenen Ausprägungen. Allen gemeinsam ist, dass sie dazu dienen, uns wieder in Sicherheit zu bringen: entweder indem die Gefahr ausgelöscht wird (Kampf), indem ich mich aus ihrer Reichweite weg bewege und ihr ausweiche (Flucht), oder indem ich meine Sinneswahrnehmung weitgehend ausschalte, um den Schmerz nicht zu spüren (Verharren, Totstell-Reflex).
Ein im Zusammenhang mit Stress weniger thematisiertes, aber ebenso angeborenes System des Umgangs mit bedrohlichen Situationen ist unser Fürsorgesystem. Auch dieses ist in uns Menschen - ebenso wie in allen Säugetieren - tief verwurzelt und angelegt. Wir haben die Fähigkeit, uns gegenseitig zu trösten, zu umsorgen und zu beruhigen. Im Fürsorgesystem geben wir uns die liebevolle Zuwendung und den Schutz, den wir brauchen, damit wir uns wieder in Sicherheit fühlen, z.B. beruhigenden Körperkontakt, liebevollen Zuspruch, Verständnis und Ermutigung.
Oft ist dieses System der Fürsorge gegenüber dem Alarmsystem weniger gut ausgeprägt. Es bietet jedoch einen großen Schatz für einen heilsamen Umgang mit Stress, zumal wir durch Selbstmitgefühl die Fähigkeit haben, uns selbst zu beruhigen und mit dem zu versorgen, was wir selbst in einer stressigen Situation brauchen.
Wodurch geraten wir eigentlich in Stress? Es gibt eine Vielzahl an potentiellen Stressauslösern, vor allem werden unterschieden:
Menschen reagieren jedoch sehr unterschiedlich auf „Stress“-Situationen. Kein Reiz löst „per se“ und immer Stress aus.
Die Frage danach, was als „Stress“ wahrgenommen wird, hat viel mit eigenen Erfahrungen, wahrgenommenen Fähigkeiten, Interpretationen und erlernten Mustern zu tun. Stress ist eine komplexe Wechselwirkung zw. Situation und Person.
Vor allem die Bewertung einer Situation durch Gedanken trägt zur Qualität, eine Situation als “stressig“ (bedrohlich, schädigend, herausfordernd) zu erleben bei, z.B. Gedanken wie "Das schaffe ich nie!", "Ich werde dumm da stehen!", "Oh Hilfe, ich soll eine Präsentation halten?... Bestimmt kriege ich wieder kein Wort raus!", "Die Schmerzen werden bestimmt nie aufhören."
Fragen Sie sich einmal: Was sind meine ganz persönlichen Stressauslöser?
Vielleicht fallen Ihnen als erstes naheliegende Gründe im Außen ein: Zu wenig Zeit, zu viele Aufgaben, ein schwieriger Chef... Horchen Sie aber auch einmal in sich selbst hinein: Welche inneren Stressauslöser tauchen auf? Vielleicht gibt es den Wunsch, immer alles besonders gut zu machen oder die Erwartung an sich selbst, immer für andere da sein zu wollen. Erst wenn Sie wissen, wo die Ursache Ihres Stressproblems liegt, können Sie wirklich etwas verändern.
Das Stressgeschehen äußert sich im Körper, im Geist durch z.B. Gedanken, in Gefühlen, die auftreten und im Verhalten.
Jeder Gedanke, der eine Situation oder eine Empfindung als bedrohlich bewertet, kann ein Stressauslöser sein, der Stress-Gefühle hervorbringt.
Ob wir es merken oder nicht: Vor allem reagiert auch unser Körper auf vielfältige Weise (zur Stressantwort des Körpers siehe auch ausführlicher unter Stress-Symptome). Auch diese Stress-Reaktionen, wie z.B. ein schneller schlagendes Herz oder eine wahrgenommene Angst, können wiederum als bedrohlich wahrgenommen werden und erneut Stress erzeugen.
Aus diese Weise kann ein Stresskreislauf bzw. eine Stressspirale entstehen, in dem die Bedrohung und der Stress immer bedrohlicher werden.
Im Vergleich zur Situation vor tausenden von Jahren, als sich unser Gehirn gebildet hat, reagieren wir heutzutage mit Stress meist nicht mehr auf lebensbedrohliche Situationen, sondern in größerem Maße auf eine Vielzahl von psychosozialen Situationen (Erwartungen im Job, in der Familie und Freizeit, Konflikte am Arbeitsplatz oder im Privatleben, Erwartungen an sich selbst, Kommunikation im Alltag etc.).
Leben wir in Ländern ohne Krieg und in Verhältnissen ohne permanente Gewalterfahrungen ist meistens nicht unser Leben bedroht, sondern unser Selbstwert. Wir fühlen uns oft durch Worte und das Verhalten anderer Menschen oder durch wahrgenommene Erwartungen bedroht und angegriffen.
Mit dieser Bedrohung des Selbstwertes ist oft auch eine Angst davor verbunden, von anderen Menschen abgelehnt, nicht anerkannt und möglicherweise ausgeschlossen zu werden, z.B.: "Wenn ich diese Aufgaben nicht alle bis dann und dann schaffe, mache ich meinen Job nicht gut, bin nichts wert, und meine Kollegen und Vorgesetzten werden mich für unfähig und inkompetent halten."
Da sich Stress auf so komplexe Weise in uns zeigt und auswirkt (in Körper, Geist, Emotionen und Verhalten), gibt es auch bei der Stressbewältigung verschiedene Ansätze und Strategien, die an unterschiedlichen Stellen ansetzen. Sie lassen sich in diese drei Kategorien unterteilen, an denen sich auch die Fachliteratur und der Leitfaden Prävention der Krankenkassen orientiert:
Sogenannte Mutimodale Stressbewältigungstrainings, wie z.B. MBSR - Stressbewältigung durch Achtsamkeit, gelten als besonders wirkungsvoll und nachhaltig, weil sie an allen diesen drei Ebenen ansetzen. Sie beschäftigen sich nicht nur mit den Symptomen des Stresses und deren Abbau, sondern auch mit den inneren und äußeren Auslösern von Stress, sowie dem inneren komplexen System der Wahrnehmung, Emotionen und Denkweisen. Selbstmitgefühlstrainings legen einen Schwerpunkt auf die Kultivierung von Freundlichkeit, Selbstfürsorge und Selbstmitgefühl (Denk- und Bewertungsmuster), umfassen jedoch auch alle drei Bereiche. Sie sind ebenfalls eine Methode zum bessern Bewältigung von Stress..
Der Organismus sieht Stress als Ausnahmezustand. Wenn Entspannung folgt, ist Stress nicht schädlich - er ist sogar leistungsförderlich! Langes Aushalten von wiederkehrendem Stress ohne Erholung kann jedoch zu gesundheitlichen Problemen und chronischen Krankheiten führen (>> Stress-Symptome). Gönnen Sie sich daher Möglichkeiten des Energieabbaus, Ruhe und Erholung, vor allem nach arbeitsreichen Phasen, oder in Übergangssituationen von der einen zur nächsten Aufgabe.
Für einen nachhaltige Stressreduktion ist es wichtig, all das, was Sie zur Bewegung, Entspannung und Erholung tun, regelmäßig zu machen. Dabei gilt: Weniger ist mehr - dafür aber regelmäßig. Und: es sollte Ihnen Spaß machen und zu Ihnen passen. Probieren Sie es aus!
Unser Geist spielt eine große Rolle für die Entstehung und den Umgang mit Stress. Daher ist es hilfreich, sich den eigenen Denk- und Bewertungsmustern, den inneren Motiven und Einstellungen zuzuwenden, sie zu erkennen und ggf. zu ändern.
Wir stressen uns oft selbst durch die Art und Weise, wie wir mit uns selbst sprechen.
Ein Beispiel für eine stresserzeugende Einstellung ist die innere Überzeugung "Ich muss jederzeit erreichbar sein." - Muss ich das wirklich? Oder denke ich das nur? Welcher Mensch kann das auf Dauer leisten? Was passiert wirklich, wenn ich nicht immer und zu jeder Zeit erreichbar bin? Welches Motiv treibt mich an, wenn ich dieser Überzeugung folge? - Verlässlich sein zu wollen? Immer für andere da zu sein? Anerkannt und gemocht zu werden? - Aber wie kann ich für andere da sein, wenn ich meine eigene Grenzen nicht achte? Wenn ich mich erschöpft und überlastet fühle?
Niemand kann und muss wirklich immer rund um die Uhr erreichbar sein! Niemand kann und muss alles perfekt machen! Sie stressen sich selbst, wenn Sie glauben, dass Sie keine Fehler machen dürfen, oder für alles die Verantwortung tragen! Erlauben Sie sich, Grenzen zu setzen, um sich und ihre Gesundheit zu schützen, und um dauerhaft auch für andere da sein zu können. Überprüfen Sie Ihre Einstellungen, machen Sie einen Realitäts-Check, fragen Sie Freunde, was die dazu sagen würden. Erlauben Sie sich, Ihnen und ihren Bedürfnissen mit mehr Freundlichkeit zu begegnen!
Welcher Satz fällt Ihnen ein, den Sie liebend gerne einmal hören würden, der Sie erleichtert und Druck nimmt?
Selbstfürsorge, Freundlichkeit zu sich selbst und Selbstmitgefühl zu entwickeln sind wichtige Strategien zur Stressbewältigung. Forschungen zur Wirksamkeit von Psychotherapien haben ergeben, dass die Entwicklung einer Haltung, die von Selbstakzeptanz und Freundlichkeit geprägt ist, einen sehr großen Einfluss auf Heilung hat, ganz gleich, mit welchen Therapieansätzen und Methoden gearbeitet wird. Selbstmitgefühl ist wird in Medizin und Forschung mehr und mehr als wichtige Querschnittkompetenz anerkannt. Spezifische Trainings in Selbstmitgefühl, wie z.B. MSC (Mindful Self-Compassion - Achtsames Selbstmitgefühl) und MBCL (Mindfulness-Based Compassionate Living - Mitfühlend leben) widmen sich gezielt der Kultivierung dieser Ressourcen, an die wir alle andocken können.
Gelassenheit kann entstehen, wenn ich mich nicht von meinen eigenen inneren Mustern und Leitsätzen antreiben oder mitreißen lasse, wenn ich nicht sofort reagiere um noch besser, schneller, liebenswerter, oder leistungsfähiger zu sein. Auch wenn Sie ein temperamentvoller Mensch sind und sich nicht für besonders gelassen halten - Gelassenheit kann trainiert werden. Sie ist ein wichtiger Aspekt von Achtsamkeit und wird in achtsamkeitsbasierten Programmen, wie z.B. dem MBSR-Programm systematisch eingeübt.
Akzeptanz entwickeln entlastet und macht frei. Oft arbeiten wir uns an Dingen ab, die wir gar nicht ändern können:
Aber verändert sich etwas, wenn wir uns innerlich dagegen aufbäumen? Geht die schlechte Laune dadurch weg? Verändert sich der Chef? - Meist ist es nicht so. Dann kann es helfen, sich in Akzeptanz zu üben. Es ist nun einmal so, wie es ist. Es gibt Grenzen der Einflussnahme. Akzeptanz heißt jedoch nicht, alles passiv zu ertragen oder zu erdulden, was mir nicht gut tut - geschweige denn es mögen zu müssen. Es heißt erst einmal nur, das anzuerkennen, was nun einmal so ist und dann ggf. nötige Schritte zu unternehmen, die hilfreich, selbstfreundlich und unterstützend sind.
Je mehr wir auf unsere innere Stimme hören, in uns hineinschauen und uns in Akzeptanz und Freundlichkeit üben, desto klarer wird auch, welche Dinge wir im außen ändern möchten, damit es uns besser geht.
Wir müssen nicht alles aushalten, was uns belastet und krank macht. Manchmal ist es notwendig und gut, kleine oder große Dinge zu ändern.
Allerdings mit Weitsicht und Weisheit - und nicht aus einer spontanen Reaktion heraus. Belastungen zu reduzieren setzt an den äußeren Stressoren an und ist eine weitere Säule der Stressbewältigung.
Dazu kann gehören:
Einige Seminare und Fortbildungen konzentrieren sich allein auf diese Strategie der instrumentellen Stressbewältigung und geben Methoden und Techniken an die Hand, sich besser zu organisieren (z.B. "7 Tipps zur stressfreien Büroorganisation").
So wichtig und hilfreich solche Methoden sind, sowie wirkungslos sind sie oft, weil das Problem des Stresses oft tiefer liegt, z.B. in eigenen Denkweisen, Einstellungen, Haltungen und emotionalen Reaktionen. Die lassen sich nämlich nicht per Knopfdruck oder durch das reine Wissen und eine Methode verändern.
Das Konzept des MBSR-Stressbewältigungstrainings berücksichtigt daher alle Strategien in seinem Programm und verbindet sie miteinander.